Wieso eigentlich Russisch?

… Die wohl häufigste Frage, wenn ich Leuten erzähle, was ich mache. Kommen Sie mit in die Vergangenheit und erfahren Sie mehr über meinen Weg zum Übersetzer und Lektor.

Wundern Sie sich nicht, wenn sie gleich von Ereignissen erfahren, die sich nicht nur vor meiner, sondern auch vor der Geburt meiner Mutter abgespielt haben. Am Ende werden Sie verstehen …

Damals …

Mein Großvater, den ich nie kennenlernen durfte, diente in der 6. deutschen Armee unter General Paulus. Bevor es zum Kessel von Stalingrad kam, in dem viele Soldaten ihr Leben ließen, wurde mein Großvater verwundet. Er erhielt den „Heimatschuss“ und durfte nach Hause, sodass die Schlacht in Stalingrad ohne ihn stattfand. Nachdem seine Verletzung geheilt war, wurde er wieder an die Front befohlen und kämpfte dort noch weit über das Ende des II. Weltkrieges hinaus, da die 6. Armee die Kapitulation verweigerte. Er kam in Gefangenschaft, kehrte aber nach dem Ende des Krieges lebend nach Hause zurück. Diese Zeit war für meinen Großvater prägend – er lernte Russisch und erzählte viele Jahre später seiner Tochter – meiner Mutter – lustige Anekdoten und Wortspiele.

Mein Erbe

Meine Mutter erbte die Liebe zur russischen Sprache von ihrem Vater und studierte in Russland.

Als kleines Mädchen – ich war gerade 6 Jahre alt und war eingeschult worden – war ich schon immer an den Büchern interessiert, die sich auf Augenhöhe neben meinem Platz am Esstisch befanden. Es waren russische Bücher. Ich konnte gerade so die deutschen Buchstaben lesen, da brachte mir meine Mutter auf meinen Wunsch hin das Lesen der russischen Schrift bei. Und ich verstand natürlich kein Wort, las langsam und setzte so den Nerven meiner Mutter zu.

In der Schule besuchte ich zuerst eine Russisch-AG, später hatte ich regulären Russisch-Unterricht bis in die Oberstufe. Zwei Schüleraustauschprogramme nach St.-Petersburg lehrten mich auch die Kultur lieben: Gastfreundliche Menschen, die alles geben würden, selbst wenn es das letzte Hemd wäre.

In einem Russischkurs, der überwiegend aus Russisch-Muttersprachlern bestand, war ich die einzige Deutsche, die in diesem Fach auf Leistungskurs-Niveau das Abitur schrieb. Ich stand den anderen in nichts nach.

Es kam wie es kommen musste – ich studierte Russisch an der Universität – zuerst mit Nebenfach, später wechselte ich die Universität und konnte Russisch im Verbund mit Ukrainisch vollwertig studieren.

2019 (noch im Studium) stieß ich auf ein Kollektiv aus Übersetzern, das sich mit der Übersetzung von politischen Analysen beschäftigt – in diesem Kollektiv bin ich bis heute ehrenamtlich tätig.

So zieht sich Russisch schon durch mein ganzes Leben.

Mein Vermächtnis

Der Zufall wollte es, dass ich ein Werbevideo über eine Ausbildung zum freiberuflichen Lektor fand, welche ich relativ zügig begann. Da Festanstellungen für mich nicht infrage kamen, blieb mir nur die Freiberuflichkeit, vor welcher ich allerdings sehr großen Respekt hatte. Doch ich wagte den Sprung in die Ungewissheit.

Sie erinnern sich daran, dass ich mit der Geschichte meines Großvaters begann? Sie werden jetzt verstehen, warum sie wichtig ist.

Mein allererster Auftrag als freiberufliche Übersetzerin und Lektorin bescherte mir militärische Geheimdokumente (mittlerweile freigegeben) auf Russisch. Es handelte sich um das Tagebuch eines russischen Agenten, der sich unter die kriegsgefangenen Generäle, zu denen auch General Paulus gehörte, mischte und die Korrespondenzen, die ihm zu Ohren kamen, niederschrieb.


Ob Zufall oder nicht. Ich sehe das als eine große Verkettung von Umständen, die mich schlussendlich hier haben ankommen lassen, wo ich jetzt bin: Wäre mein Großvater nicht verwundet worden, wäre er in Stalingrad gefallen. Meine Mutter und in der Konsequenz auch ich wären nie geboren worden. Und ich hätte nie die Dokumente über den General erhalten, unter dem mein Großvater im II. Weltkrieg gedient hat.

Die russische Sprache fasziniert mich seit ich denken kann. Sie zieht sich durch mein Leben. Und dieser erste Auftrag lässt mich ein gewisses Vermächtnis spüren, das auf meinen Schultern lastet.

Es schließt sich ein Kreis und ich fühle, dass ich den richtigen Weg eingeschlagen habe …